26. Januar 2024, ca. 20:00: Die zweite Runde des DSAM-Qualifikationsturniers in Bad Wildungen war fast abgeschlossen. Nur noch die zwei Spieler, die Schiedsrichter und ein paar Schaulustige verloren sich im großen Saal des Maritim Hotels. Ganz am Ende des Raumes kämpfte Lily mit Weiß an Brett 2 ums Remis gegen den erfahrenen Dr. Ireneus Kostowski, der im vorherigen Qualifikationsturnier schon auf einem der Spitzenplätze der Gruppe D gelandet war. Die Partie war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Zuerst überspielte Lily ihren Gegner aus der Eröffnung heraus, übersah dann eine Taktik, verlor ihren Turm und fand sich nach ca. 3 Stunden Spielzeit in einem verlorenen Endspiel (Dame + 3 Bauern gegen Turm + Dame) wieder. Lily entdeckte aber einmal mehr ihr Kämpferherz. Sie suchte ihre Chance, indem sie ihre Bauern nach vorne schob und nach ein paar Ungenauigkeiten ihres Gegners schien wieder alles möglich. Lily schaffte es einen Bauern umzuwandeln und so den schwarzen Turm zu gewinnen. Nach gut 4 Stunden Spielzeit einigte man sich auf Remis. Lily saß am Livebrett, hier kann man alles in Gänze anschauen.

Am Brett in Bad Wildungen

Sie biss sich unerbittlich in jede weitere Partie des Turniers hinein und zeigte außergewöhnliches Durchhaltevermögen, denn sie wollte unbedingt ihr nächstes Ziel erreichen: Mit dem Gewinn der Silbermedaille bei der Jugendeuropameisterschaft im letzten Herbst war der direkte Erwerb des WCM-Titels (Woman Candidate Master) verbunden. Dies ist der erste Titel, der einem Schachspieler vom Weltschachverband FIDE auf Lebenszeit verliehen werden kann. Die weiteren Steigerungen sind FM (FIDE Master), IM (International Master) und GM (Grand Master). Für jede Titelstufe muss man gewisse ELO-Grenzen überspringen und für den IM- und GM-Titel zusätzlich sogenannte Normen erbringen. Lilys Titel würde von der FIDE erst endgültig zuerkannt werden, sobald sie eine Spielstärke von 1800 ELO nachweisen kann. Der Deutsche Schachbund stellt zusätzlich noch die Bedingung auf, dass auch 1700 DWZ überschritten werden müssten, was ähnlich schwierig ist. Um dies zu erreichen spielte Lily im Januar zwei Qualifikationsturniere zur DSAM (Deutschen Schach-Amateur-Meisterschaft) in Potsdam und Bad Wildungen. Trotz der Qualifikation für das Finale als beste Frau in der Gruppe E entschied sich Lily dann in Bad Wildungen zu der anspruchsvolleren Gruppe D zu wechseln. Das Turnier lief sehr gut, Lily war in Hochform. Nach der oben beschriebenen Nervenschlacht am Tag 1 folgten ein Remis und ein Sieg am Tag zwei. In der letzten Runde kam es zum Duell mit dem 9-jährigen Konstantin Müller, einem weiteren deutschen Top-Talent aus Münster, den wir auch schon bei der EM in Mamaia kennen gelernt hatten. Konstantin war von der Wertungszahl her leichter Favorit, er versuchte auch Initiative zu bekommen. Wenn aber jemand in der Partie zwischenzeitlich einen leichten Vorteil hatte, dann war es Lily. Nach dem Remisschluss analysierten die beiden noch zusammen mit GM Thomas Pähtz. Seine Zusammenfassung der Partie war sinngemäß, dass man ohne das Wissen, wer da am Brett gesessen hat, auch annehmen könnte, dass zwei Großmeister sich etwas abgetastet haben. Die Partie mit Konstantin war ebenfalls am Livebrett und kann somit nachgespielt werden. Die Qualifikation für das DSAM-Finale in der Gruppe D hatte Lily damit zwar knapp verpasst, aber der WCM-Titel war gesichert.

Lily und Konstantin vor der letzten Runde. Im Hintergrund links: Dr. Ireneus Kostowski, Lilys Gegner aus der 2. Runde

Heute war es dann so weit: Lily darf sich ab sofort WCM (Woman Candidate Master) nennen. Hätte mir vor einem Jahr jemand prognostiziert, dass Lily heute schachlich dort stehen würde, wo sie steht, hätte ich das für sehr unwahrscheinlich gehalten. Erheblichen Anteil an ihrer Entwicklung haben ihr Trainer FM Tobias Vöge, meine Wenigkeit, die Kadertrainer des Schachbunds NRW und des Deutschen Schachbunds sowie nicht zuletzt auch die erfahrenen Schachspieler des SK Halle, die sich in der Jugendarbeit einbringen und regelmäßig ihre Zeit zur Verfügung stellen, um freitags abends mit Lily und den anderen Jugendschachlern zu üben. In Lilys Altersklasse gibt es derzeit weltweit neben Lily nur 4 Mädchen, die schon einen Titel erspielt haben. Es ist nicht so ohne weiteres herauszufinden, ob Lily die jüngste deutsche Titelträgerin aller Zeiten ist, ich halte dies aber für wahrscheinlich, denn viele weitere Mädchen mit Titel ihres Alters gab es vor ihr nicht und den WCM-Titel gibt es auch erst seit 2002. Ganz nebenbei ist sie auch die erste Titelträgerin, die unser Schachklub jemals in ihren Reihen hatte. Wir freuen uns sehr darauf, sie weiter auf ihrem Weg zu begleiten, wo auch immer er noch hinführen mag. Als nächstes Highlight steht im April die Blitz- und Schnellschach-WM in Albanien auf dem Programm. Letztes Jahr ist Lily dort vierte geworden, dieses Jahr spielt sie eine Altersklasse höher. Wir sind sehr gespannt und voller Vorfreude :-).

2020 (7 Jahre): (Noch) Zuschauerin beim Teutopokal in Halle

2021 (8 Jahre): Teutopokal in Werther zu Coronazeiten, hier gegen Martin Schulte

2022 (9 Jahre): 1. Deutsche Jugend Einzelmeisterschaft U10w

2023 (10 Jahre): Vizeeuropameisterin Lilian Schirmbeck

2024 (10 Jahre): Woman Candidate Master Lilian Schirmbeck